Maria Montessori Portrait lesend 1913

Theorie und Praxis bei Montessori

Montessori in der Diskussion

Wie bei einem so umfangreichen pädagogischen Werk und einer so langen Schaffenszeit zu erwarten, gibt es vielschichtige Diskussionen um Montessoris diesbezügliche Auffassungen. Diese Seite ist Teil der Rubrik Montessori in der Diskussion, die diverse Streitpunkte um ihre Pädagogik inkl. Kritikerquellenangaben im Detail darlegt. Es wird daraus eine lebendige Diskussion deutlich, die sich in unzähligen Publikationen teilweise Jahrzehnte zurückverfolgen lässt.

Einleitung

Im Text "Kritik und Metakritik der Pädagogik Maria Montessoris" schreibt Prof. Harald Ludwig, Herausgeber der Maria Montessori Gesammelte Werke und die herausragende Autorität der heutigen Zeit zu ihrem Werk, ausführlich über die Herausforderungen, Montessoris Werk zu interpretieren.

In zweiten Kapitel des Textes beschreibt er aus seiner Sicht die "Grundregeln für eine wissenschaftliche Diskussion der Pädagogik Maria Montessoris", die sich aus der Komplexität ihres Werkes ableiten. Im ersten Unterkapitel, zur Beachtung hermeneutische Standard bei der Erarbeitung der Auffassungen Montessoris, fügt er einen Exkurs zu Theorie und Praxis bei Montessori hinzu, den wir hier veröffentlichen.

Exkurs: Theorie und Praxis bei Montessori (Harald Ludwig 2022)

In diesem Zusammenhang sei kurz auf die ebenfalls umstrittene Frage eingegangen, ob Montessori ihre Konzeption mehr von theoretischen Positionen her oder von ihren Erfahrungen in der Erziehungspraxis entwickelt hat. Der Würzburger Erziehungswissenschaftler Winfried Böhm etwa vertritt die These, dass Montessori reine Theoretikerin gewesen sei und ihre pädagogischen Erkenntnisse in theoretischem Kontext gewonnen habe, ohne dass Beobachtungen und Erfahrungen in der Praxis dazu nennenswert beigetragen hätten.

Hier lohnt es sich, zunächst einmal zu fragen, wie Montessori selbst das sieht. In ihrer Schrift „Die Entdeckung des Kindes“ geht Montessori auf die Entstehung ihrer Konzeption ein und berichtet u. a. über ihre zweijährige Tätigkeit als Leiterin eines Instituts für Sonderschullehrer und der angeschlossenen Schule für geistig behinderte Kinder. Sie schreibt dort u. a.:

"Ich war länger anwesend als eine Grundschullehrerin und unterrichtete die Kinder ohne festen Turnus ununterbrochen von acht Uhr morgens bis sieben Uhr abends. Diese zwei Jahre Praxis geben mir meinen ersten und wahren Anspruch in Bezug auf Pädagogik."[1]

Zudem ist bekannt, wie sehr sie immer wieder die Erfahrungen mit den Kindern des ersten Kinderhauses im römischen Elendsviertel San Lorenzo als eine entscheidende Quelle für den Aufbau ihrer pädagogischen Konzeption betont hat. Andererseits heißt dies keineswegs, dass Montessori ausschließlich eine begnadete Praktikerin und geniale Reformerin gewesen sei. Sie hat sich immer als Wissenschaftlerin gefühlt und den Anspruch auf wissenschaftliche Fundierung ihrer Pädagogik nie aufgegeben. Sie hat auch betont, dass ihre wissenschaftliche Ausbildung eine wesentliche Voraussetzung für die von ihr gewonnenen Erkenntnisse gewesen sei. In einem Vortrag, den die italienische Pädagogin 1933 bei dem 19. Internationalen Montessori-Kurs in London zum Thema „Die zwei Naturen des Kindes“ gehalten hat, geht sie beispielsweise auf dieses Problem ein.[2]

Sie schildert, wie sie im Zusammenhang mit den Erfahrungen mit den Kindern von San Lorenzo die zweite, tiefere, ihrer Meinung nach wahre Natur des Kindes entdeckt habe. Sie habe Phänomene beobachtet – sie meint hier insbesondere die Fähigkeit des Kindes zur konzentrierten Hingabe an eine Sache im Phänomen der Polarisation der Aufmerksamkeit –, die vor ihr auch andere Pädagogen schon gesehen hätten. Sie verweist auf Pestalozzi im Waisenhaus in Stans und auch auf den russischen Dichter und Pädagogen Tolstoi und seine Schule. Diese hätten jedoch die Tragweite der Phänomene nicht voll erkannt und vor allem nicht die Bedingungen erforscht, unter denen solche Phänomene entstehen können. Dies getan zu haben, sieht Montessori als ihr Verdienst an und führt es teilweise auf ihre wissenschaftliche Ausbildung und Tätigkeit zurück. Wörtlich resümiert sie in diesem Text:

"Teilweise war es Zufall, teilweise meine wissenschaftliche Vorbereitung und vorherige Arbeit, die mich für die Wahrnehmung spontaner psychischer Bekundungen sensibilisiert hatten, und mich die Bedingungen erkennen und wiederherstellen ließen, die diese Manifestationen erlauben. Seitdem ist es mein Bestreben gewesen, das Wissen um diese tiefere Natur für den Bereich der Erziehung fruchtbar zu machen."[3]

Montessori beansprucht also für ihre Erkenntnis eine doppelte Quelle. Es ist einmal der praktische Umgang mit Kindern im Rahmen pädagogischer Bemühungen und die sorgfältige Beobachtung von Kindern. Es ist anderseits aber auch eine wissenschaftliche Schulung und theoretische Vorbereitung, die zur Gewinnung neuer Erkenntnisse beiträgt. Dieser doppelte Zugang ist sicherlich auch für die heutige Diskussion der Montessori-Pädagogik von großer Bedeutung.

[1] Montessori, Maria: GW Bd. 1: Die Entdeckung des Kindes, Freiburg 2010, S. 30.

[2] Montessori, Maria, Erziehung für eine neue Welt, Freiburg 1998, S. 36ff (in GW 10: Grundlagen meiner Pädagogik, in Vorb.).

[3] Ebd., S. 44.

Quellenhinweise

Aus: Maria Montessori, Grundgedanken der Montessori-Pädagogik, Hg. Harald Ludwig

© 2022 Verlag Herder GmbH, Freiburg i. Br.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages

Kursivsetzungen sind im Original.

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