Blitzlicht 4 aus der Forschungswerkstatt „Montessori-Pädagogik im Kontext des deutschen Nationalsozialismus" - Wann ist ein Bruch kein Bruch?
Wann ist ein Bruch kein Bruch? Maria Montessori zwischen Kontrollverlust und Instrumentalisierung
Es ist März 1933. Gerade hat in Barcelona der 18. Internationale Montessori-Ausbildungskurs angefangen, geleitet von Maria Montessori und organisiert durch ihren Sohn Mario.
Darunter sind eine ganze Reihe Teilnehmer:innen aus Deutschland, die aus der Ferne die schicksalhafte Reichstagswahl vom 05.03.1933 erleben. Einige von ihnen kehren als Folge der Wahlergebnisse gar nicht mehr nach Deutschland zurück, sondern emigrieren von Barcelona aus. (Bericht der Teilnehmerin Luise Henkelmann gegenüber Prof. Günter Schulz-Benesch. In: Montessori (Erträge der Forschung), Schulz-Benesch, 1980.)
Die Montessoris haben über den Kurs hinaus einige Probleme zu meistern.
Vorgeschichte
Mitte Januar 1933 hatten Maria und Mario Montessori ihren Austritt aus der Opera Nazionale Montessori (ONM) erklärt. Dies war ein nach außen hin endgültiger Bruch mit der ONM, die eigentlich das weltweite Zentrum der Montessori-Bewegung hätte werden sollen. Vorangegangen war ein zweijähriger Streit mit dem ONM-Vorsitzenden, Emilio Bodrero, über die Ausrichtung der ONM und über die den Montessoris zunehmend entzogene Kontrolle über „ihre“ Organisation.
Der Streit war schon Anfang August 1932 eskaliert, als die Generalversammlung der AMI beim Internationalen Montessori-Kongress in Nizza beschloss, den ersten offiziellen Sitz der AMI nicht in Rom, sondern in Berlin zu etablieren, unter der Leitung des Berliner Anwalts Dr. Herbert Axster (siehe Blitzlicht 2). Bodreros Sekretär Enrico Castelli wurde der Zugang zur entscheidenden Sitzung in Nizza verwehrt, wahrscheinlich um eine Einflussnahme durch die ONM zu verhindern.
Direkt vorher und vermutlich prägend war die Verhaftung von Maria Montessoris rechter Hand in Rom, Giuliana Sorge, am 09.07.1932 gewesen, weil sie eine unvorsichtige, angeblich auf Mussolini bezogene Äußerung gemacht hatte („Je älter dieser Mann wird, desto dümmer wird er“), die an die Behörden weitergegeben wurde.
Ein Spitzel der italienischen Politischen Polizei berichtete zudem aus Nizza, das Publikum hätte Parolen skandiert wie „Nieder mit dem Faschismus, es lebe Maria Montessori“.
Der Vorsitz der OMN wechselt von Emilio Bodrero zu Piero Parini
Am 23.12.1932 verteidigt sich Bodrero gegenüber Mussolini bzgl. der Vorwürfe Montessoris ihm gegenüber. In der italienischen Montessori-Forschung hält sich hartnäckig die Behauptung, Mussolini hätte als Reaktion Montessori als Nervensäge („rompiscatole“) bezeichnet. Die von uns gesichtete Gesprächsnotiz des Privatsekretärs von Mussolini dokumentiert aber lediglich, dass er sie als unruhig („irrequieta“) wahrnimmt.
Ob und wie Mussolini eingreift, ist nicht bekannt, aber Bodrero erklärt Ende Januar 1933 seinen Rücktritt. Nachfolger als ONM-Vorsitzender wird Piero Parini, Montessori gegenüber freundlich gestimmt und schon seit 1931 als offizieller Vertreter des Außenministeriums im Aufsichtsrat der ONM. AMI-Generalsekretär Herbert Axster besucht Parini schon im Februar 1933 in Rom, wie die ONM-Hauszeitschrift Montessori stolz berichtet.
Andere Sorgen
Zu Mario Montessoris Sorgen gehört auch, dass der ihm auch privat freundschaftlich verbundene Herbert Axster nach der Machtergreifung seine Zweifel mitgeteilt hat (s. Blitzlicht 2), ob er der Richtige wäre unter der neuen Regierung.
Unabhängig von all dem war Ende 1932 aufgedeckt geworden – für die Montessoris stark belastend –, dass ein gewisser Filippo Del Giudice, Rechtsanwalt und bis dahin im Aufsichtsrat der ONM, einen ihm von den Montessoris anvertrauten wesentlichen Geldbetrag veruntreut hatte. Dieser Verlust würde noch jahrelang die finanzielle Situation der Montessoris prägen. Del Giudice, hingegen, zog nach London um, von ihm später begründet durch die angebliche politische Verfolgung durch die italienischen Behörden. Dort wurde er ein erfolgreicher Filmproduzent.
Briefe an Mussolini und Parini
Die Montessoris sehen mit dem Wechsel von Bodrero zu Parini die Chance, die Geschicke der ONM doch wieder mitzubestimmen, und wenden sich, wie schon oft, direkt an Mussolini.
Bereits bekannt in der Montessori-Forschung war, dass Mario Montessori im März 1933 Mussolini zwei Briefe schreibt, in denen er vom erfolgreichen Kursbeginn in Barcelona berichtet und Vorschläge zur Reorganisation der ONM macht.
Im Archiv der AMI in Amsterdam findet sich – neu entdeckt – ein wortgleicher Brief vom 25.03.1933 zum Barcelona-Kursbeginn von Mario auch an Parini, der allerdings einen zusätzlichen letzten Absatz enthält:
„Unter Bezugnahme auf Ihre letzte Korrespondenz vom 2. dieses Monats beauftragt mich die Dottoressa, Ihnen zu sagen, dass sie, da es viele Fragen zu klären gibt und sie weiß, dass Sie beabsichtigen, Barcelona zu besuchen, es bevorzugen würde, wenn Sie Entscheidungen über alles, was die Wiederaufnahme der Tätigkeit der Opera Montessori in Italien betrifft, bis zu Ihrer Ankunft in Barcelona verschieben, was hoffentlich bald der Fall sein wird“.
Die Montessoris hoffen also, dass Parini ihnen wieder Einfluss auf die ONM gewähren will.
Parinis Sicht der Dinge
Piero Parini ist seit 1928 im italienischen Außenministerium Generaldirektor für die Italiener im Ausland, an Mussolini direkt berichtend. Er ist zuständig für Propaganda und Aktionen im Ausland, um die faschistische Regierung bei den auswärtigen Italienern in einem günstigen Licht erscheinen zu lassen.
Parini hat bei seiner Ernennung Ende Januar 1933 als ONM-Vorsitzender einen klaren Auftrag bekommen, nämlich „der Opera Montessori eine nationale und faschistische Orientierung zu geben, und sie zu einem Instrument zu machen, das die Regierung gebrauchen kann". (So ein regierungsinternes Schreiben des Außenministeriums an den Ministerrat vom 26.01.1934.)
Nach den Problemen der Montessoris mit Bodrero geht es der Regierung bei der Benennung von Parini offensichtlich hauptsächlich darum, mit ihnen Frieden zu schließen um sie für Italien und seine faschistische Regierung als Aushängeschild zu erhalten.
Maria Montessori weiß um ihre Propaganda-Wirksamkeit, wie ein Brief vom 17.06.1932 an Mussolini bezeugt, in dem sie ihn daran explizit erinnert. Den Montessoris droht aber, instrumentalisiert zu werden.
Kontakte nach Deutschland
In zwei weiteren - noch nicht gefundenen – persönlichen Briefen aus dem März 1933 beschreibt Mario gegenüber Mussolini die „Maßnahmen, die in Deutschland in letzter Zeit in Bezug auf die Montessori-Gesellschaften ergriffen wurden“, so gibt Parini, der sie weitergeleitet bekommt, den Inhalt wieder.
Parini, der zwischenzeitlich wohl doch nicht nach Barcelona gereist war, meldet zu diesen „Maßnahmen“ am 19.04.1933 beflissen an Mario Montessori zurück:
„Ich habe Dr. Montessori sofort telegraphisch über das Gespräch informiert, das ich mit Dr. Axster geführt habe, und ich zweifle nicht daran, daß Dr. Axster selbst seinerseits über den gemeinsam aufgestellten Aktionsplan berichtet haben wird.“
Über den „Aktionsplan“ ist leider nichts bekannt.
Der Internationale Montessori-Kongress 1933 in Amsterdam
Unabhängig davon gibt es zwischen Axster und Mario erste Überlegungen, den eigentlich für Mainz im Juli 1933 geplanten Internationalen Montessori-Kongress nach Amsterdam zu verlegen (s. Blitzlicht 1), was dann im Mai 1933 beschlossen und auch umgesetzt wird.
Wie üblich soll beim Kongress in Amsterdam zum Schluss der Ort des nächsten Kongresses bekanntgegeben werden. Vermutlich durch Parini initiiert, übermittelt der italienische Generalkonsul in Amsterdam eine offizielle Einladung der italienischen Regierung, den nächsten Kongress 1934 in Rom abzuhalten.
Die Montessoris stimmen zu, auch wenn Maria Montessori bereits in Amsterdam die Sorge äußert, Italien dann nicht mehr verlasen zu können – so ein Spitzelbericht der italienischen Politischen Polizei aus Amsterdam.
Fazit
In den Biografien zu Maria Montessori wird von ihrer Teilnahme am Internationalen Montessori-Kongress in Rom 1934 berichtet, trotz des Bruchs mit der ONM Anfang 1933.
Was in der Zwischenzeit passierte, und wie es zu dem Kongress in Rom kam, wurde bislang kaum problematisiert. Unser Studium von Dokumenten im italienischen Staatsarchiv in Rom (das Bild rechts) und im AMI-Archiv in Amsterdam konnte einiges aufklären, wie in diesem Blitzlicht beschrieben.
Schwer wiegt bei den Montessoris sicherlich das Dilemma zwischen größerem Einfluss bei der ONM und der Instrumentalisierung durch die faschistische Regierung.
Quellenangabe der Akten aus dem Archivio centrale dello Stato (ACS) in Rom:
Maria Montessori: Ministero dell’Interno (Mi), Polizia politica (Pp), cat. I, b.859
Opera Nazionale Montessori: PCM 1934-36, f.5.1.2069 sf.1
Außenministerium: PCM 1934-36, f.14.3.415/2
Giuliana Sorge: Casellario Politico Centrale, b. 4875, f. 112594
Foto: Irene Pozzi und Jörg Boysen im ACS, Rom (Rechte bei Prof. Heiner Barz)
Wie geht es weiter?
Die nächsten Blitzlichter sind in Vorbereitung und erscheinen in etwa monatlichen Abständen.
Unter anderem werden wir die enge Freundschaft zwischen Mario Montessori und Herbert Axster inkl. ihrer Familien beleuchten, die das geschäftliche Rückgrat sowohl der AMI als auch der Zusammenarbeit zwischen VMPD und AMI damals darstellte.
Die Sinnfälligkeit unseres Projektmottos bestätigt sich: „Wir wollen die Vergangenheit kennen, um für die Zukunft zu lernen.“ Es zeigt sich, wie der Streit um Pädagogik und Macht der gesamten deutschen Montessori-Bewegung nach innen und außen bedeutend schadete und die Montessoris vor gravierende Dilemmata stellte.
Bereits bekannt ist, dass nach der Machtergreifung, mit dem Berufsverbot von Juden und politischen Abweichlern ab April 1933, viele Montessori-Einrichtungen schließen mussten. Die Projektergebnisse machen deutlicher, vor welchem Dilemma die deutsche Montessori-Bewegung stand, noch zu retten, was gerettet werden konnte.
Finanzierung des Forschungsprojekts
Das Forschungsprojekt „Montessori-Pädagogik im Kontext des deutschen Nationalsozialismus“ wurde mit der Maßgabe aufgesetzt, vollständig aus Drittmitteln finanziert zu werden, also das Budget des Bundesverbands nicht zu belasten. Auch wenn das Projekt durch die großzügige Zuwendung einer Stiftung finanziell unterstützt wird, bleibt eine zu schließende Lücke von ca. 30.000 €, für die wir interessierte Personen oder Organisationen um Spenden bitten, um das Projekt finanziell endgültig absichern zu können. Mehr Infos gibt es hier.