"Zwanzig Jahre Aufbauarbeit für den Bundesverband" – Jörg Boysen im Gespräch
Jörg Boysen war eine zentrale Figur beim Aufbau von Montessori Deutschland. Im Interview erzählt der langjährige Vorstandsvorsitzende von den Anfängen in einem weitgehend unstrukturierten Umfeld, von der Gründung des Dachverbands bis zur Professionalisierung von Montessori Deutschland. Er spricht über Qualitätsentwicklung, strategische Öffentlichkeitsarbeit, wissenschaftliche Auseinandersetzung – und darüber, was die neue Verbandsstruktur ab 2025 für die Zukunft bedeutet. Ein persönlicher Rückblick – und ein Ausblick auf das, was kommt.
Sie haben als ehrenamtlicher Vorsitzender von Montessori Deutschland viel Aufbauarbeit geleistet. Nun wird eine neue Struktur für den Verband in Kraft gesetzt. Wie sah die Ausgangslage aus, wo steht der Verband heute, und wohin soll er sich entwickeln?
Jörg Boysen: Als ich 2003 mit der Verbandsarbeit anfing, war ich als Vater Vorsitzender des Montessori-Zentrums Hofheim, Träger einer Schule und einer Kita. Schnell wurde mir klar: Es gab kaum Verbandsstrukturen, die uns unterstützten oder eine Plattform für Öffentlichkeitsarbeit und Interessenvertretung boten. Ich engagierte mich zunächst im Vorstand des Landesverbands Hessen, während auf Bundesebene die damalige Organisation ADMV gerade wegen interner Streitigkeiten auseinandergefallen war. Zusammen mit anderen Verbandsvertreter:innen schafften wir es aber, im Rahmen eines „Gemeinschaftswerks Montessori“ eine neue Struktur zu entwickeln, mit der wir den Montessori Dachverband Deutschland gründeten. Ich wurde Stellvertretender Vorsitzender des neuen Verbandes. Der Dachverband ermöglichte erstmals einen gleichberechtigten Zusammenschluss von Landesverbänden und Ausbildungsorganisationen, aber unter schwierigen Bedingungen: Mit einem minimalen Budget und ehrenamtlichen Vorständen war die Arbeit recht mühsam, insbesondere die Entwicklung von Qualitätsstandards.
Warum lag Ihnen die Qualitätsentwicklung von Anfang an so am Herzen?
Jörg Boysen: Es gab zwar gewisse Standards für Montessori-Ausbildungskurse, aber keine allseits abgestimmten für die Montessori-Praxis. Jede Einrichtung konnte sich „Montessori“ nennen, ohne einheitliche Kriterien zu erfüllen. Besonders in der Primarstufe war die sogenannte „kosmische Erziehung“, ein zentraler Bestandteil der Montessori-Pädagogik in dieser kindlichen Entwicklungsphase, oft nicht konsequent umgesetzt. Deshalb haben wir anspruchsvollere neue Standards formuliert, die teilweise weit über die damalige Praxis hinausgingen. Das war notwendig, aber auch herausfordernd, da nicht alle bereit waren, diesen Sprung zu machen.

Wie ging es dann weiter?
Jörg Boysen: Ab 2011 war uns klar, dass wir im rein ehrenamtlichen Rahmen nicht wirksam arbeiten konnten. Es fehlten Ressourcen für Öffentlichkeitsarbeit und andere zentrale Aufgaben. Auch hat es gerade einen größeren Streit gegeben, innerhalb des Verbandes über die notwendige Erneuerung der Ausbildungen.
Als 2014 unser bisheriger Vorsitzender, Prof. Hans-Joachim Schmutzler, aus Altersgründen zurücktrat, stellten wir uns als neues Vorstandsteam zur Wahl – mit dem Mandat, dass wir den Verband professionalisieren sollten. Als Nicht-Pädagoge hatte ich nie das Amt des Vorsitzenden haben wollen, aber mit dem Auftrag der Professionalisierung konnte ich als ehemaliger Unternehmensberater etwas anfangen.
Das war der Wendepunkt. Vier Jahre später präsentierten wir erstmals ein Konzept für einen schlagkräftigen Bundesverband und die erste Version von Qualitätskriterien für die Montessori-Ausbildung und die Montessori-Praxis. Die weltweite Montessori-Organisationen, Assoziation Montessori Internationale (AMI), erkannte diese Planungen durch das Angebot an, wir könnten eine „Affiliierte Gesellschaft“ werden, worauf wir sehr stolz sind.
Nach intensiven internen Abstimmungen in den Vorjahren gründeten wir 2020 während der Pandemie Montessori Deutschland. Hierdurch führten wir praktisch die gesamten deutschen Montessori-Bewegung zusammen. Ein zentraler Unterschied des neuen Verbands war, dass auch Träger von Schulen und Kitas selbst Mitglied wurden. Das ermöglichte höhere Mitgliedsbeiträge und eine erweiterte Geschäftsstelle.
Welche konkreten Ziele verfolgt der Bundesverband heute?
Jörg Boysen: Unser langfristiges Ziel ist, dass Montessori-Einrichtungen bundesweit anerkannt sind, Eltern ihre Kinder weiterhin gerne dorthin schicken und Pädagoginnen und Pädagogen eine hochwertige Montessori-Zusatzausbildung erhalten. Außerdem wollen wir in der Öffentlichkeit und der Politik als starke Stimme wahrgenommen werden. Um das zu erreichen, haben wir ein Verfahren für den Qualitätsrahmen (QR) unserer Qualitätsstandards für Einrichtungen und Ausbildungskurse entwickelt, bei dem sich diese „QR-anerkennen“ lassen können.
Wie ist die Akzeptanz?
Jörg Boysen: Bei den Ausbildungskursen sind wir auf einem guten Niveau zu einer allgemeinen Umsetzung, die mittelfristig verpflichtend ist. Für Einrichtungen ist die Teilnahme freiwillig. Der Prozess ist anspruchsvoll und setzt intensive Diskussionen im Kollegium voraus. Aber das lohnt sich: Zum einen bringt der Weg an sich wichtige Entwicklungsimpulse. Zum anderen wirkt die Qualitätsmarke nach außen als Nachweis dafür, dass eine Einrichtung tatsächlich nach Montessori-Prinzipien arbeitet. Immer mehr Schulen und Kitas machen mit.
Wie wichtig ist die Öffentlichkeitsarbeit für Montessori Deutschland?
Jörg Boysen: Essenziell. Wir müssen als Verband in der Öffentlichkeit sichtbar sein und langfristig als Gesprächspartner für Politik und Gesellschaft anerkannt werden. Dafür haben wir drei Schwerpunkte definiert: pädagogische Nachwuchssicherung, wissenschaftliche Verankerung und bildungspolitische Interessenvertretung. Auf Bundesebene geht es manchmal darum, Programme wie den Digitalpakt oder den Pakt für den Ganztag so mitzugestalten, dass auch freie Träger fair berücksichtigt werden. Wir müssen präsent sein, um Einfluss zu nehmen und die Interessen der Montessori-Bewegung für unsere spezielle Pädagogik zu vertreten. Unser Ziel ist ein klares, faktenbasiertes und gleichzeitig anschlussfähiges Profil der Montessori-Bewegung – eines, das dem „Tiefgang“ der Montessori-Pädagogik gerecht wird und zugleich anschlussfähig für die Bildungsdebatten der Gegenwart ist.
Welche Herausforderungen gibt es dabei?
Jörg Boysen: Die Montessori-Pädagogik hat zwar ein insgesamt positives Image, doch es ist in der öffentlichen Wahrnehmung oft noch unscharf. Immer wieder werden wir mit Vergleichen konfrontiert, etwa zur Waldorfpädagogik, oder es kursieren vereinfachende Vorstellungen davon, was „Montessori“ bedeutet. Das zeigt: Unser Profil ist noch nicht klar genug etabliert – weder in der breiten Öffentlichkeit noch in wissenschaftlichen oder politischen Diskursen.
Wir haben in den letzten Jahren gezielt daran gearbeitet, diese Lücke zu schließen – durch strategische Öffentlichkeitsarbeit, durch stärkere mediale Präsenz und durch die Aufarbeitung der eigenen Geschichte. Gerade wenn historische Aspekte der Montessori-Pädagogik in Frage gestellt oder missverstanden werden, ist es wichtig, dass wir differenziert und proaktiv kommunizieren.
Wie planen Sie, die wissenschaftliche Verankerung der Montessori-Pädagogik zu fördern?
Jörg Boysen: Die wissenschaftliche Verankerung der Montessori-Pädagogik ist ein zentrales Anliegen für uns – gerade, weil wir in Deutschland noch immer mit einer gewissen Skepsis innerhalb der bildungswissenschaftlichen Community konfrontiert sind. Während Montessori international längst Teil bildungstheoretischer Diskurse ist und in zahlreichen Studien positive Wirkungen belegt wurden, herrscht hierzulande oft Zurückhaltung – nicht selten basierend auf veralteten Bildern oder unzureichender Auseinandersetzung mit der heutigen Praxis.
Unser Ziel ist es daher, Brücken zu bauen: Wir suchen gezielt die Zusammenarbeit mit progressiven Bildungsforscherinnen und -forschern, die offen sind für alternative pädagogische Ansätze und bereit, sich differenziert mit der Montessori-Praxis auseinanderzusetzen. Dabei geht es nicht um unkritische Bestätigung, sondern um echten Dialog und gemeinsame Forschungsprojekte – beispielsweise zu Themen wie individualisiertem Lernen, selbstbestimmter Bildungsbiografie oder Deep Learning.
Ein erster konkreter Schritt ist das Forschungsprojekt zur Positionierung der Montessori-Pädagogik und dem Auftreten der Montessori-Bewegung in der Zeit des Nationalsozialismus, das wir gemeinsam mit Prof. Heiner Barz von der Universität Düsseldorf auf den Weg gebracht haben. Darüber hinaus wollen wir mittelfristig eine Forschungsplattform schaffen, die den Austausch zwischen Praxis, Ausbildung und Wissenschaft systematisch fördert – denn nur so kann Montessori-Pädagogik auch in der akademischen Welt den Stellenwert einnehmen, den sie in der Praxis längst hat.
Was bedeutet für Sie die Inkraftsetzung der neuen Struktur von Montessori Deutschland im September 2025?
Jörg Boysen: Mit der neuen Struktur bekommt der Verband einen zweiköpfigen, hauptamtlichen Vorstand, der von einem ehrenamtlichen Aufsichtsrat bestellt wird. Ähnliche Strukturen gibt es schon bei vielen größeren Montessori-Trägern, und auf Bundesebene gibt uns diese Professionalisierung die Sicherheit, auf Herausforderungen in der Zukunft besser vorbereitet zu sein und unsere Entwicklung noch gezielter selbst gestalten zu können.
Welche persönliche Bilanz ziehen Sie nach mehr als zwei Jahrzehnten Engagement für die Montessori-Bewegung in Deutschland?
Jörg Boysen: Was mich über all die Jahre getragen hat, ist die Überzeugung, dass Montessori-Pädagogik für Kinder und Jugendliche einen ganz besonderen Raum des Lernens und Wachsens schaffen kann – wenn sie professionell umgesetzt wird. Darin bestätigt haben mich die vielen Montessori-Kolleginnen und Kollegen, denen es allesamt um das Kind und seine Entwicklung geht, handfest, praxisorientiert und sehr motiviert. Mein Ziel war es, stabile Strukturen zu schaffen, damit diese Pädagogik sich entfalten kann. Es war oft ein langer Atem nötig – aber es hat sich gelohnt. Dass wir heute einen anerkannten, handlungsfähigen Bundesverband haben, der zunehmend Einfluss gewinnt, ist für mich ein großer gemeinsamer Erfolg.
Worin sehen Sie Ihre persönliche Rolle in der Professionalisierung des Verbands?
Jörg Boysen: Ich sah meine Aufgabe vor allem darin, unternehmerisches Denken in einen pädagogischen Kontext übersetzt zu haben. Als jemand, der nicht aus dem Bildungsbereich kam, konnte ich vielleicht leichter auf Struktur, Effizienz und Wirkung schauen – nicht als Gegensatz zu pädagogischen Idealen, sondern als Voraussetzung dafür, dass sie Wirkung entfalten können. Die Professionalisierung des Verbands war nie Selbstzweck, sondern ein notwendiger Schritt, um Montessori in Deutschland zukunftsfähig zu machen: mit klaren Qualitätsstandards, sichtbarer Interessenvertretung und einer Organisation, die auch Krisen standhält. Ich habe Impulse gegeben, Brücken gebaut – aber es war immer Teamarbeit.
Was wünschen Sie Montessori Deutschland für die Zukunft?
Jörg Boysen: Ich wünsche mir, dass der Verband auch in Zukunft den Mut hat, klare Positionen zu beziehen – in der Bildungslandschaft, aber auch in gesellschaftlichen Debatten. Dass er vielfältig bleibt und trotzdem gemeinsam handelt. Und dass er nie vergisst, worum es im Kern geht: Kindern eine Umgebung zu schaffen, in der sie ihr Potenzial entfalten können. Dafür lohnt sich jede Anstrengung.
Vielen Dank für das Gespräch – und für Ihr langjähriges Engagement für Montessori Deutschland.