“Kinder wollen lernen” - Ein Talk mit Elizabeth von Sobiesky, pädagogische Leiterin von Montessori Deutschland
Zu Beginn der Podcastfolge diskutieren Andrej Priboschek und Elizabeth von Sobiesky – die aus Bayern stammt – über die bayerische Praxis der sogenannten „Exen“ (News4teachers berichtete). Das sind unangekündigte Tests, die Schüler*innen oft überraschend treffen. Von Sobiesky berichtet aus eigener Erfahrung: „Das war immer wieder für uns der Angstmoment an einem Morgen, wenn der Lehrer mit damals noch einem Exenkoffer, der Trennwände beinhaltete, ins Klassenzimmer kam und es hieß: ‚Wir schreiben eine Ex.‘“ Sie bezeichnet diese Tests rückblickend als „Folterinstrument“, mit dem zwar kurzfristig eine Art von Motivation bei den Schülerinnen und Schülern erzeugt wurde, der Lerneffekt aber aufgrund der entstandenen Stresssituation meist gering war.
Auch der Übertritt nach der vierten Klasse, also die Entscheidung über den weiteren Bildungsweg, ist in Bayern stark leistungsorientiert. Von Sobiesky kritisiert diesen frühen Druck und den Zeitpunkt der Entscheidung darüber, welche Schulform für das Kind am besten geeignet ist. Sie stellt die Frage, warum Kinder selbst nicht nach ihrer Sicht gefragt werden:
„Wer fragt denn mal die Viertklässler, wie sie sich fühlen in ihrem Viertklassjahr?“
Von Sobiesky kritisiert, dass beim Übertritt in Bayern ausschließlich die formale Leistung eines Kindes entscheidend sei und keine zusätzlichen Kriterien zu Rate gezogen würden.

Im Gespräch geht es auch um die Bundesjugendspiele, deren Reform deutschlandweit für Diskussionen sorgt. Für manche Kritiker ist die Abschwächung des Wettbewerbscharakters ein Verlust. Von Sobiesky begrüßt die Diskussion, weil diese grundlegende Fragen aufwirft – wie diese: Was ist überhaupt Leistung und an welchen Kriterien wird diese gemessen? Gastgeber Andrej Priboschek führt dazu aus: „Ist Leistung, wenn jetzt ein Kind 3,5 Meter weit springt? Oder ist es eine besondere Leistung, wenn ein Kind vielleicht nur 2,8 Meter springt, aber von einem ganz anderen Leistungsniveau kommt?“ Elizabeth von Sobiesky erläutert, dass es oftmals beim Begriff Leistung um einen Vergleich zwischen verschiedenen Kindern gehe. Aus ihrer Sicht muss Leistung aber individuell gemessen werden. Gleiwohl müssten auch gesellschaftliche Rollenerwartungen erfüllt werden, so von Sobiesky.
Ein zentraler Aspekt der Podcastfolge ist der Kontrast zwischen einem standardisierten Leistungsbegriff und dem individuellen Blick auf Kinder. „In jedem Kind ist ein gewisses Potenzial angelegt und dieses Potenzial gilt es durch Umgebung, zu dem auch die Pädagoginnen und Pädagogen gehören, zu unterstützen und zu fördern“, erklärt Elizabeth von Sobiesky. Kinder wollen lernen, so ihr Credo:
„Jedes Kind möchte arbeiten, zeigen, was es kann, sich entwickeln, größer werden und damit natürlich immer wieder auch über sich hinauswachsen.“
Gleichzeitig warnt sie vor der möglicherweise kontraproduktiven Wirkung von äußeren Bewertungen: „Diese intrinsische Motivation geht verloren, wenn ich immer von außen höre, dass das, was ich tue, nicht reicht und nicht angemessen ist an einer Norm, die mir von außen festgelegt wurde.“
Andrej Priboschek und Elizabeth von Sobiesky diskutieren schließlich auch über Pflicht und Motivation im Lernprozess. Muss man Kinder mitunter zum Lernen zwingen? Von Sobiesky plädiert für ein breiteres Verständnis von Lernen als einem reinen Wissenserwerb (wodurch sich Zwang praktisch erledigt): „Wichtige Inhalte, um das Leben zu bestreiten, können kognitive Wissensinhalte sein – Dinge über Geschichte zu wissen und über Biologie und über Physik. Es kann aber auch bedeuten: ‚Ich habe gelernt, wie ich mit Menschen umgehe‘, oder: ‚Ich habe gelernt, wie ich mich selber organisiere.‘“ Und das geht dann übers Pauken hinaus.
Infolge der Diskussion stellt Andrej Priboschek die Frage, ob individuelles Interesse eines Jugendlichen – etwa der Wunsch, Gamingweltmeister zu werden – schulische Grundlagenkenntnisse wie das kleine Einmaleins obsolet machen dürfe. Elizabeth von Sobiesky antwortet differenziert: „Grundsätzlich glaube ich schon, dass wir auch als Menschen nicht unbedingt darüber urteilen sollten, ob der Gamingweltmeister vielleicht nichts kann, weil der Gamingweltmeister hat ja offensichtlich dann auch etwas gelernt, nämlich Experte in seinem Gebiet zu sein.“
Gleichzeitig betont sie allerdings: „Das kleine Einmaleins sollte vorhanden sein. Wenn ich das Einmaleins in mathematischem Verständnis nicht verstanden habe, dann kann ich auch nicht darauf aufbauen und höhere Dinge der Mathematik dann oft nicht verstehen.“
Im weiteren Verlauf des Gesprächs geht es um die Rolle von Noten und Feedback. Elizabeth von Sobiesky stellt klar, dass Noten grundsätzlich eine Daseinsberechtigung haben. Noten seien eine Kommunikationsgrundlage, auf deren Basis man sich austauschen kann, erläutert von Sobiesky. Sie kritisiert jedoch: „Wenn aber eine Note ein K.-o.-Kriterium für etwas ist, dann ist es eben kein Prozessorientierungsgedanke, sondern nur ein Produktgedanke und ein Produktgedanke bringt mir nicht viel.“
Stattdessen hebt sie das Prinzip der „materialimmanenten Lernkontrolle“ in der Montessori-Pädagogik hervor, durch das Kinder selbstständig ihren Kenntnisstand überprüfen können, denn Lernen muss aus ihrer Sicht als kontinuierlicher Prozess verstanden werden: „Ich lerne, mich selber einzuschätzen. Und ich lerne zu sehen, was es bedeutet, wenn ich so und so viel Arbeit in etwas gesteckt habe“, erläutert Elizabeth von Sobiesky.
Auf die Frage, ob Schülerinnen und Schüler in Montessori-Einrichtungen völlig frei in der Wahl ihrer Lerninhalte seien, erklärt Elizabeth von Sobiesky, dass die dort verwendeten Materialien aufeinander aufbauen und Lehrer*innen entsprechende Impulse setzen würden: „Dann schubse ich natürlich ein bisschen an. Und ich mache ein Angebot: ‘Wollen wir uns das zusammen angucken?’ Und das heißt aber nicht, dass ich einen Druck ausübe auf das Kind.“
Widersetzt sich ein Kind wiederholt diesen Impulsen, betont von Sobiesky, müsse man als Lehrkraft immer wieder neue Impulse geben und das Kind ermutigen, das betreffende Lernmaterial auszuprobieren. Gegebenenfalls müsse die Lehrkraft herausfinden, warum das Kind das angebotene Material verweigert. Vielleicht spielen familiäre Gründe eine Rolle. Es gehe darum, die Umgebung so zu gestalten, dass das Kind sich in seinem Lernprozess weiterentwickeln kann und die Lehrkraft mit dem Kind in einen Austausch tritt.
Auch die Frage, ob gute Noten nicht Anreiz für mehr Lerneifer sein könnten, greift das Gespräch auf. Elizabeth von Sobiesky entgegnet: „Kinder zeigen ja trotzdem, was sie getan haben. Sie können zum Beispiel jetzt ihren Freunden aus der Klasse erklären, wie das Material funktioniert und man kann dann gemeinsam weiterlernen.“
Als Lehrkraft mit Erfahrung an staatlichen Gymnasien und Montessori-Schulen stellt Elizabeth von Sobiesky deutliche Unterschiede in den Ansätzen fest: In Montessori-Einrichtungen seien ihr weniger ängstliche Kinder begegnet als an staatlichen Schulen. Kinder in Montessori-Einrichtungen würden zudem ihrer eigenen Einschätzung vertrauen.
In Bezug auf klassische Leistungserhebungen sagt sie: „Exen könnten das Instrument der Wahl sein, wenn sie angekündigt wären oder wenn sie so vorbereitet sind, dass sie am Ende des Tages ein Ergebnis abbilden, bei dem theoretisch jeder die Möglichkeit hätte, eine gute Note zu erreichen.“ Wichtig ist Elizabeth von Sobiesky neben Vorbereitung und Durchführung von Tests vor allem deren Nachbereitung. Dabei geht es Ihrer Meinung nach um die adäquate Förderung von Kindern, je nachdem, wie sie in einem Test abgeschnitten haben. An vielen Schulen fehlt aus ihrer Sicht die Kapazität für eine solche individuelle Förderung.
Zum Schluss zieht Elizabeth von Sobiesky ein Fazit über den Umgang mit Leistung in beiden Schulsystemen:
„Es steht und fällt meiner Meinung nach alles mit der Haltung und der Umgebung, in der ich mich in diesem Schulkonstrukt befinde und mit der Haltung eines Pädagogen darüber, woran ich Kinder messe.“
News4teachers