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über den Umgang mit Rassismus in der Schule - ein interview

 

 

Interview

Rassismus und andere Ideologien der Ungleichwertigkeit von Menschen gehören in unserer Gesellschaft leider zur Lebenswirklichkeit, sagt Sanem Kleff. Die in Ankara geborene Lehrerin engagiert sich unter anderem als Gewerkschafterin und Autorin gegen Rassismus. Sie ist Geschäftsführender Vorstand des Aktion Courage e.V. und seit über 20 Jahren Direktorin des Projekts „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“. 2021 wurde sie in die Expert:innenkommission antimuslimischer Rassismus des Landes Berlin berufen. Im Interview mit Montessori Deutschland erklärt sie, wie sie die aktuelle Lage in den Schulen einschätzt und welchen Rat sie Schulleitungen und Lehrkräften gibt, die gegen Diskriminierungen vorgehen wollen.

Foto: © Wolfgang Borrs

Sanem Kleff quer c Wolfgang Borrs

Rechtsextremismus und Rassismus finden sich auch an Schulen. Besonders viel Aufmerksamkeit hat Mitte 2023 eine Situation in Brandenburg erhalten: Zwei Lehrkräfte, die rechtsextremistische Umtriebe an ihrer Schule öffentlich gemacht haben, haben diese anschließend verlassen, weil sie sich dort bedroht sahen. Wie kann es sein, dass eine Situation an einer Schule dermaßen aus dem Ruder läuft?

Sanem Kleff: Das ist ein ganz spezifischer Fall, aber das, was die beiden Kolleg:innen an der Schule vorgefunden und beschrieben haben, ist leider weder einmalig noch auf Brandenburg oder gar auf diese eine Schule beschränkt. Am allermeisten hat mich daher die Reaktion der Öffentlichkeit und der Medien gewundert, aus der tatsächlich Überraschung sprach im Sinne: „Wie kann das sein? Wir wussten nicht, dass es so was in Deutschland gibt.“ Dabei gibt es das in Deutschland schon sehr lange. Das ist ein Teil unserer Lebensrealität und unseres Alltages – wenn auch nicht immer und überall im gleichen Maße oder in gleicher Form. Die Frage ist: Warum fällt das der Öffentlichkeit nicht auf, obwohl Nachrichten über derlei Vorfälle gar nicht so selten sind? Ein paar Tage zuvor hatten Medien über eine Berliner Klasse in Brandenburg berichtet, die dort rassistisch beleidigt und bedroht worden war. Kurz darauf gab es eine Nachricht über eine deutsch-spanische Schüler:innengruppe, die an einem Ferienfreizeitort rassistisch attackiert worden war. Wer kann sich also tatsächlich darüber wundern? Doch nur diejenigen, die nie Nachrichten lesen.

Man sollte aufhorchen, wenn die AfD in bestimmten Regionen stets bei 20, 30 oder 40 Prozent Zustimmung landet und stärkste Partei ist. Da stecken bestimmte Haltungen hinter – und Schulen existieren nun mal nicht außerhalb dieses Universums. Wenn die Erwachsenen rechtsextreme, rassistische und menschenfeindliche Stimmen beklatschen, bejubeln und wählen, dürfen wir uns nicht wundern, dass die Kinder diese Haltungen übernehmen. Ich möchte den Blick aber von den Kindern weglenken. Sie haben den Rechtsextremismus nicht erfunden, weder in Brandenburg noch anderswo. Es sind wir, die Erwachsenen, die die Verantwortung haben und da stellt sich die Frage: Warum tun wir so wenig und verdrängen so enorm viel? Das gilt bezogen auf die Schulen genauso wie auf die Gesamtgesellschaft. In Deutschland haben wir immer noch einen Rechtsstaat. Wir haben ein Grundgesetz, wir haben ein Strafgesetzbuch, wir haben die Schulgesetze der Länder. Wenn ich die alle ernst nehme, dann muss die Schule aktiv gegen Rechtsextremismus und andere menschenfeindliche Strömungen vorgehen. Verfassungsfeindliche Symbole sind strafrechtlich relevant. Das aktive Vorgehen einer Schule ist nicht dem Belieben der Kolleg:innen oder Eltern überlassen. Unsere Aufgabe ist es, bei Rassismus und Rechtsextremismus hinzuschauen und gegen diese Strömungen vorzugehen.

Welche Funktion kommt dabei den Schulleitungen zu?

Sanem Kleff: Die Schulleitung ist natürlich vor allem auf der strukturellen Ebene verantwortlich. Sie sollte sich folgende Fragen stellen: Wo findet an meiner Schule soziales Lernen oder die Förderung von Kommunikationskompetenz statt? Wie lassen sich dafür im Schulalltag Zeitfenster realisieren? Doch ich finde es zu einfach, die Verantwortung allein auf die Schulleitung abzuwälzen, als sei Schule ein fast diktatorisches System. Das Kollegium hat ein Mitspracherecht, gleiches gilt für die Eltern und auch die Kinderrechte sind gesetzlich verankert. Das heißt, auch die Kinder dürfen sich einmischen und sollen lernen, sich einzubringen. Es ist wichtig, nicht wegzugucken und sich offen mit den Problemen auseinanderzusetzen. Schulen, die Teil unseres Netzwerks sind, verpflichten sich genau dazu. Denn egal was wir machen, es wird immer Diskriminierung, Mobbing, Homophobie oder Muslimfeindlichkeit geben. Das kann man nicht ausmerzen. Entscheidend ist daher, wie damit umgegangen wird.

Die Hintergründe von Konflikten sind nicht immer eindeutig erkennbar. Wie sollten Schulen und Lehrkräfte mit Situationen umgehen, in denen sich die Frage stellt, ob Handlungen etwa rassistisch motiviert sind?

Sanem Kleff: Die Hauptaufgabe der Schulen ist es nicht, einen Fall zu kategorisieren. Ein Fall wird dann zu einem Fall, wenn es irgendjemanden gibt, der oder die sich durch irgendetwas, das passiert ist, betroffen fühlt. Und bevor ich akademische Analysen durchführe und mich frage, ob es zu dieser Situation gekommen ist, weil das Mädchen ein Mädchen ist oder weil es nicht reich genug ist oder zu dick oder aus Uganda stammt, ist es wichtig, zunächst festzuhalten, dass hier eine Schülerin ist, die sagt, dass sie attackiert wurde. Das müsste mir als Pädagogin erst einmal reichen, um in der aktuellen Situation zu intervenieren und deutlich zu machen: „Diskriminierung hat hier keinen Platz.“ Wir haben in Deutschland ein Antidiskriminierungsgesetz und das besagt, dass Diskriminierung verboten ist. Schulen sollten daher Konzepte vorliegen haben, wie sie mit solchen Vorfällen umgehen wollen.

Meiner Meinung nach ist es auch Aufgabe von Schule, Kinder in gewaltfreier Auseinandersetzung und Respekt gegenüber anderen zu erziehen. In der Lehrerausbildung wird die Ebene des sozialen Lernens aber viel zu theoretisch oder gar nicht behandelt. Gutes Lernen ist jedoch nur in einem angstfreien Raum möglich. Diese Auffassung findet sich zwar auch in den Schulgesetzen der Länder, aber die Schulen – ich rede von den Regelschulen, nicht den Sonderformen – haben leider ein Problem mit der konkreten Umsetzung, weil sie dafür nicht entsprechend ausgestattet werden. Es fehlt an Personal, Zeit, Platz und Fortbildungen.

Durch unser Netzwerk haben wir Kontakt zu Schulen in ganz Deutschland – von der Grund- bis zur berufsbildenden Schule – und im Moment kann ich sagen: die Lage der Schulen in Deutschland ist ziemlich mies. Die Kolleg:innen haben keine Kraft mehr. Das passiert immer mal wieder, aber so wie im Schuljahr 2022/2023 habe ich es noch nicht erlebt und ich bin schon ein paar Jahrzehnte dabei. Durch die Coronakrise, die Klimakatastrophe, den Krieg in der Ukraine und andere Vorkommnisse ist das sprichwörtliche Fass jetzt übervoll. Wenn die Kolleg:innen keine Kraft mehr haben, dann sagen sie auch irgendwann: „Oh, mein Gott, das ist jetzt schon das zehnte Hakenkreuz in dieser Woche! Ich kann einfach nicht mehr.“ Ich sage damit nicht, dass diese Einstellung gut ist, ich sage nur, dass wir verstehen müssen, woher sie kommt.

Zudem haben wir uns in Deutschland ein Schulwesen aufgebaut, das Exklusion durch eine falsch verstandene Art von Wettbewerb aktiv befördert. Ich bin total fürs Messen, wer schneller ist oder höher springt. Das ist toll. Das brauchen wir. Das wollen wir. Aber doch nicht so, dass derjenige, der weniger schnell ist, der Verlierer ist, sondern im motivierenden Sinne: Heute magst du schneller gewesen sein als ich, aber morgen kann es schon anders ausgehen. Im Moment haben wir aber Wettbewerb im negativen Sinne und die Folgen kennen wir. Wer arm ist, bleibt arm. Wer ungebildet ist, bleibt ungebildet. Wer keine Chance hat, kriegt keine Chance und wer schon viel hat, der kriegt mehr – das Spiel ist ganz einfach. Eine zentrale gesellschaftliche Frage lautet daher: Wollen wir das oder nicht? Man kann sich für oder gegen Exklusion entscheiden, aber wir sollten mit offenen Karten spielen und nicht die Schule so ausstatten, dass sie Exklusion befördern, aber dann anderes erwarten.

Was kann eine Schule konkret unternehmen, die sich auf den Weg machen möchte, eine Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage zu werden und was muss sie dabei beachten?

Sanem Kleff: Wir raten allen Schulen, die an uns herantreten: Macht erst mal gar nichts, sondern redet untereinander darüber, worum es euch geht. Was wollt ihr mit dem Beitritt ins Netzwerk erreichen? Welche Erwartungen verbindet ihr damit? Im Mittelpunkt stehen ja zwei Begriffe: Rassismus und Courage, wobei wir uns nicht auf Rassismus beschränken, sondern uns mit allen Ideologien der Ungleichwertigkeit von Menschen beschäftigen. Was bedeutet das für euch? Welches Menschenbild ist euch wichtig? Wohin soll die Reise gehen und welche Wege scheinen euch sinnvoll zu sein? Wir bieten keine Checkliste, die sich abarbeiten lässt. Wir wollen die Schulen stattdessen unterstützen, eine Kultur der Verantwortung und des Hinguckens zu implementieren. Wir sagen daher: Es liegt an euch, aber wir lassen euch nicht allein. Ab der Sekunde, in der ihr eintretet, habt ihr mit der Landes- und Bundeskoordination schon mal zwei Anlaufstellen, an die ihr euch wenden könnt. Hinzukommen mehr als 100 regionale Koordinierungsstellen. Wir prüfen, ob es irgendwelche Menschen, Projekte, Anbieter oder Lehrerbildungsinstitute in der Nähe gibt, mit denen wir euch vernetzen können, damit ihr eure Ziele erreichen könnt. Wenn ihr das wollt und darin einen Mehrwert seht, dann seid ihr bei uns willkommen.

„Courage lässt sich nicht erlernen, sondern wächst je mehr Menschen man erlebt, die sich für etwas einsetzen“, sagt Sanem Kleff in einem weiteren interessanten Gespräch, das Sie in der ARD-Audiothek hören können.

 

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