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über den Umgang mit Rassismus in der Schule - ein interview

 

 

Interview

Eines der Schwerpunktthemen von Montessori Deutschland ist die Umsetzung der Kinderrechtekonvention in Deutschland. Als Pädagoginnen und Pädagogen stehen wir in besonderer Verantwortung für das Wohlergehen der uns anvertrauten Kinder im Sinne des Grundsatzartikels 3 der UN-Konvention. Das Thema Gewalt – sowohl körperliche, als auch psychische Gewalt – ist leider auch in Deutschland für viele Kinder Alltag. Ob im Elternhaus, im Sport, in der Schule oder auch im digitalen Raum. Dabei sollte klar sein: Bildungseinrichtungen können Schutzräume vor Gewalt sein, sie können aber auch zum Tatort werden. Die Umsetzung von Schutzkonzepten und Risikoanalysen sollte deshalb für Kinderhäuser und Schulen selbstverständlich sein. Doch darüber hinaus gilt es, sich immer wieder mit dem Thema auseinanderzusetzen und zu sensibilisieren. Denn oft sind es auch scheinbar kleine Dinge, die seelische Verletzungen bei Kindern hinterlassen. Wir haben die Expertinnen Dr. Margareta Müller, Fachberaterin für den Bereich Gewalt gegen Kinder und Jugendliche beim Landesverband NRW des Kinderschutzbundes, und Regine Umbach, Fachberaterin im Kompetenzzentrum Kinderschutz NRW um ihre Einschätzung gebeten.

 

Fotos: © Deutscher Kinderschutzbund, Landesverband NRW

Umbach/Müller

Wie steht es aktuell um die Durchsetzung von Kinderrechten in Deutschland?

Margareta Müller: Da es nach wie vor große Defizite in der Umsetzung der Kinderrechte gibt, können wir damit auf keinen Fall zufrieden sein. Obwohl die UN-Kinderrechtskonvention über 30 Jahre alt ist, kennen viele Kinder und Erwachsene die Kinderrechte noch nicht. Es fehlt auch an kinderrechtebasierten Daten. Also zum Beispiel: Wie geht es Kindern wirklich in Deutschland? Wie viele Kinder haben ein inhaftiertes Elternteil? Oder wie viele Kinder werden vor Gericht gehört? Wir haben auch eine mangelnde Umsetzung der Grundsätze. Der Vorrang des Kindeswohls und der Gleichheitsgrundsatz werden nicht grundsätzlich beachtet. Und wenn wir auf das Recht auf Schutz vor Gewalt blicken, müssen wir auch feststellen, dass sehr viele Kinder in Deutschland dennoch Gewalt erleben. Das zeigen die Zahlen bezüglich der Gefährdungseinschätzungen bei den Jugendämtern sowie bei der polizeilichen Kriminalstatistik. Ebenso bleibt die Anzahl der getöteten Kinder hoch.

Hat sich die Situation der Kinder und Jugendlichen in den letzten Jahren vor allem durch die Corona-Pandemie und jetzt auch in der Zeit danach verschlechtert?

Margareta Müller: Wir kennen die Studien, die auf die gestiegenen gesundheitlichen Probleme von Kindern und Jugendlichen während der Pandemie hinweisen. Den Kindern und Jugendlichen wurde die Zeit für Entwicklung genommen und sie hatten keine Mitsprache bei den Entscheidungen. Familien waren aufgefordert, die Betreuung ihrer Kinder, die Unterstützung beim schulischen Lernen, die Berufstätigkeit und den Haushalt zu meistern. Zudem waren Kinder und ihre Familien mit den strengen Regeln isoliert. Diese Zeit kann im Leben von Kindern nicht nachgeholt werden. Es ist notwendig, ihnen nun so viel Unterstützung zu geben, wie sie brauchen. Und gleichzeitig fehlt es an entsprechenden Angeboten wie Therapieplätzen und auch Fachkräften. Wir haben hier aktuell einen Fachkräftemangel. Dazu gehören Lehrer:innen, Erzieher:innen, Sozialpädagog:innen, aber auch Kinderärzte und Kinderärztinnen.

Immer wieder werden Kinder und Jugendliche Opfer von Gewalt. Welchen Formen von Gewalt begegnen sie in der Kita, im schulischen oder häuslichen Kontext?

Margareta Müller: Kinder und Jugendliche können verschiedene Formen von Gewalt erleben. Dazu gehören Vernachlässigung, körperliche und seelische Gewalt sowie sexualisierte Gewalt. Zudem können sie auch Zeug:innen oder Betroffene von häuslicher Gewalt, also Partnerschaftsgewalt, werden. Gewalt können Kinder und Jugendliche letztendlich überall erfahren, wo sie sich aufhalten. Das kann im häuslichen Umfeld sein, in der Schule, in Betreuungseinrichtungen, in Vereinen, im öffentlichen Bereich und auch im digitalen Raum. Den müssen wir auch mitdenken. Gewalt ausübende Personen können Eltern, Verwandte, Bekannte, Vertrauenspersonen, auch Fachkräfte sowie Gleichaltrige und auch Fremde sein. Mit Blick auf den schulischen Kontext sind ebenso die Begriffe Mobbing, Cybermobbing, Diskriminierung und Rassismus zu nennen. Und zugleich ist auch auf die Peergewalt zu blicken.

Regine Umbach: Gewalt bedeutet immer auch, dass einem Kind oder Jugendlichen etwas aufgezwungen wird. Das Kind kann nicht entscheiden, ob es eine Situation aushalten kann oder will. Seine Meinung, seine Stimme zählt nicht und es ist egal, wie es ihm in den Situationen geht. Natürlich braucht es Regeln im Zusammenleben, auch in Einrichtungen. In diesem Zusammenhang bedeutet Gewalt auch, dass Kinder Regeln nicht mitbestimmen, Dinge nicht hinterfragen können und/oder herrschenden Strukturen ausgeliefert sind. Wenn wir an Gewalt denken, dann haben wir meistens die großen Begriffe vor Augen. Aber Gewalt und Grenzüberschreitung passieren und beginnen häufig im Kleinen. Das heißt, wenn Kinder und Jugendliche lernen, wie selbstunwirksam sie sind und das im schlimmsten Fall als selbstverständlich ansehen.

Gibt es aus Ihrer Sicht Möglichkeiten, wie man die Situation von Kindern und Jugendlichen verbessern kann?

Regine Umbach: In Schulen gäbe es einige Möglichkeiten. Wie viel Mitspracherecht haben Kinder und Jugendliche zum Beispiel im Unterrichtsgeschehen? Es braucht Regeln. Das ist gar keine Frage. Aber auch den Mut, als Schule, als System, als Kita zu fragen, warum gibt es diese Regeln noch? Weil es nun mal so ist oder weil sie noch den Bedürfnissen der Kinder entsprechen? Haben die Kinder die Möglichkeit zu sagen, was und wie sie sich etwas wünschen? Wo gibt es Stellschrauben und Möglichkeiten für Kinder und Jugendliche, ihre Meinung einzubringen? Man könnte beispielsweise flächendeckend an Schulen einen Klassenrat und ein Kinder- und Jugendparlament einführen.

Was kann ich denn als Lehrkraft oder Erzieher:in in einer Kita tun, wenn ich den Verdacht habe, dass ein Kind im Elternhaus körperlicher oder psychischer Gewalt ausgesetzt ist?

Margareta Müller: Fachkräfte, die mit Kindern beruflich in Kontakt stehen, haben eine gesetzlich festgeschriebene Verantwortung im Kinderschutz. Und die gesetzlichen Grundlagen für Kitas und Lehrkräfte sind verschieden. Jedoch im Verfahren ähnlich. Der Gesetzgeber gibt hier je einen Verfahrensablauf vor.

Für die Fachkräfte in den Kitas gilt der § 8a, (4) SGB VIII, Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung. Hier steht in Absatz 4, dass es eine Vereinbarung zwischen dem Jugendamt und den Trägern von Einrichtungen geben soll. Und in dieser Vereinbarung ist sicherzustellen, dass die Fachkräfte, also die Erzieher:innen in der Kita, bei Bekanntwerden gewichtiger Anhaltspunkte für die Gefährdung eines von ihnen betreuten Kindes, eine Gefährdungseinschätzung vornehmen. Bei der Gefährdungseinschätzung ist eine insoweit erfahrene Fachkraft beratend hinzuzuziehen. Ebenso sind die Erziehungsberechtigten und das Kind in die Gefährdungseinschätzung einzubeziehen, soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes nicht infrage gestellt wird. Wenn die Gefährdungseinschätzung zu dem Ergebnis kommt, dass eine Hilfe erforderlich ist, dann ist auch bei den Eltern darauf hinzuwirken, dass die Eltern die Hilfe annehmen. Erst dann, wenn Eltern eine Kindeswohlgefährdung nicht abwenden können oder wollen, ist das Jugendamt zu informieren.

Für Lehrkräfte haben wir den § 42, Absatz 6, Schulgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen. Dieser gibt Hinweise für das Handeln bei Kindeswohlgefährdung. Zudem gibt es eine bundesweite Regelung, eine bundesweite rechtliche Grundlage. Das ist der § 4, Gesetz zu der Kooperation und Information im Kinderschutz, kurz KKG. Die Lehrkräfte gehören zu den sogenannten Berufsgeheimnisträger:innen, die in § 4, KKG genannt werden. Auch für sie ist ein Verfahrensablauf im Gesetz dargestellt. Wenn sie in Ausübung Ihrer beruflichen Tätigkeit von gewichtigen Anhaltspunkten für die Gefährdung des Kindeswohls erfahren, haben sie auch entsprechend zu handeln. Sie sollen mit dem Kind oder Jugendlichen und dem Erziehungsberechtigten die Situation erörtern. Und soweit erforderlich, bei den Erziehungsberechtigten auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinwirken, soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen nicht infrage gestellt wird. Die Lehrkräfte können eine insoweit erfahrene Fachkraft hinzuziehen. Sie haben einen Anspruch gegenüber dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe auf Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft.

Im Kontakt mit dem Kind beziehungsweise dem Jugendlichen ist es auch grundlegend, dass die Fachkräfte aufmerksam hinschauen und zuhören. Kinder und Jugendliche können etwas äußern, Fachkräfte gezielt ansprechen oder Verhaltensänderungen zeigen. Dazu können Schlafstörungen, Konzentrationsprobleme, Aggressivität oder auch äußerliche Verletzungen gehören. Wenn ein Kind nach der Schule zum Beispiel nicht nach Hause möchte, kann das auch ein Hinweis darauf sein, dass es ihm dort nicht gut geht. Die Lehrkräfte müssen ein solches Verhalten dokumentieren und darauf entsprechend reagieren.

Regine Umbach: Es geht tatsächlich um eine Haltung, die pädagogische Fachkräfte und Einrichtungen gegenüber Gewalt gegen Kinder und gegenüber Kinderrecht und Kinderschutz haben. An Orten, an denen die Meinung der Kinder zählt und das Wissen über Kinderrechte vorhanden ist, haben Kinder und Jugendliche viel mehr Mut dazu, Gewalt offenzulegen und sich an die entsprechenden Fachkräfte zu wenden.

Wie sollten sich Mitarbeiter:innen einer Kita oder einer Schule gegenüber Kindern verhalten, die durch Gewalterfahrungen traumatisiert sind oder Fluchterfahrung haben?

Margareta Müller: Eine Traumatisierung kann durch Flucht, Krieg, aber auch durch Gewalterleben ausgelöst werden. Eine Traumatisierung stellt eine Situation dar, in der Personen einem schwerwiegenden Erlebnis total ausgeliefert waren. Diese Situationen bedeuten für die Betroffenen einen Verlust jeglicher Selbstbestimmung bis hin zur Todesangst. Und auch hier ist es für die Kinder und Jugendlichen hilfreich, wenn die Fachkräfte Wissen darüber haben, was ein Trauma ist und wie der Alltag traumasensibel gestaltet werden kann. Je nachdem, was passiert ist, gibt es entsprechende Trigger, die eine Retraumatisierung auslösen können. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, Trigger zu vermeiden. Solche Trigger können Anbrüllen oder unerwartetes Anfassen sein. Das hängt von dem ab, was das Kind erlebt hat. Um dem Kind Vorhersehbarkeit anzubieten und ihm seine Selbstwirksamkeit zurückzugeben, ist ein transparentes Handeln wichtig.

Es kann helfen, das Kind über die nächsten Handlungsschritte sowie über den Tagesablauf zu informieren. Ebenso ist es unterstützend, wenn das Kind beteiligt wird und selbst Entscheidungen treffen kann. Bei lang- oder mittelfristigen Symptomen sollte dies mit den Eltern besprochen werden, ggf. wird eine fachärztliche oder therapeutische Beratung benötigt. Denn unbehandelte Traumata können das Kind in seiner persönlichen Entwicklung oder beim Lernen hindern.

Regine Umbach: Es geht darum sensibel zu sein gegenüber den Erfahrungen, die Kinder mit Gewalt gemacht haben und sie im Blick zu haben. Zum Beispiel kann ein Feueralarm für solche Kinder retraumatisierend sein. Wenn es einen Probealarm an der Schule gibt, sollten die Lehrkräfte die betreffenden Kinder vorab informieren, damit dieser nicht als Trigger wirkt.

Kommen wir zum Thema Mobbing: Was kann das Kita- oder Lehr-Personal tun, wenn es in der Klasse oder in der Kita-Gruppe zu Vorfällen kommt?

Margareta Müller: Mobbing und Cybermobbing sind hier zu nennen. Mobbing zielt daraufhin, einen anderen systematisch zu erniedrigen, zu demütigen und zu schikanieren. Mobbing kann jegliche Form von gewalttätigem Handeln beinhalten, wie nonverbal, verbales Handeln, körperliche Gewalt oder auch Sachbeschädigung. Und Mobbing richtet sich kontinuierlich gegen ein und dieselbe Person, findet wiederholt und über einen längeren Zeitraum statt. Es handelt sich dabei um ein Gruppenphänomen und ist gekennzeichnet durch ein extremes Machtungleichgewicht. Dieses lässt den Betroffenen kaum eine Möglichkeit, sich aus eigener Kraft aus dieser Situation zu befreien. Die Triebfeder von Mobbern ist die Motivation, den eigenen Status in der Klasse zu verbessern und zu erhalten. Letztendlich kann jeder Schüler, jede Schülerin Opfer von Mobbing werden, da die Kriterien für Mobbing willkürlich sind und dem Mobber als Rechtfertigung für sein Handeln dienen. Lehrkräfte können Mobbing stoppen. Das setzt voraus, dass Mobbingverhalten wahrgenommen und darauf reagiert wird. Lehrkräfte sollten eine klare Position gegen Mobbing beziehen und zum Beispiel in der Klasse thematisieren.

Wie verhalte ich mich denn als Schul- oder Kitaleitung, wenn Kinder oder Eltern einen Verdacht gegenüber einem Mitarbeiter, einer Mitarbeiterin in meiner Einrichtung äußern und ihr oder ihm Gewalttätigkeit gegenüber den Kindern vorwerfen?

Margareta Müller: Für den Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung muss es ein Verfahren geben. Das hatte ich ja vorhin kurz skizziert. Also das sogenannte Verfahren gemäß § 8a SGB VIII oder auch das Verfahren gemäß § 4 KKG für die Lehrkräfte. Für die Situation, dass es Gewalt durch Mitarbeitende gibt, sollte es einen eigenen Handlungsplan geben. Dazu gehört, bereits im Vorfeld ein Krisenteam zu benennen, damit klar ist, welche Fachkräfte welche Aufgaben übernehmen. Wenn ein solcher Verdacht geäußert wird, verursacht das sehr viel Unruhe. Einen Handlungsplan zu haben, bringt Handlungssicherheit. Grundsätzlich sagen wir immer: Ruhe bewahren und sachlich bleiben, um konstruktiv reagieren zu können. Gehörtes, Gesehenes und auch eigene Vermutungen sollten dokumentiert werden. Und wenn man zum Beispiel eine konkrete Situation sieht, in der ein Kind Gewalt erfährt, geht es zudem darum, das betroffene Kind aus der Gefahrensituation herauszunehmen. Grundsätzlich gilt immer, das Kindeswohl hat Vorrang. Bei Gewalt durch Mitarbeitende ist die Leitung, der Träger zu informieren. Auch die Eltern müssen informiert werden. Ein Übergriff durch einen Mitarbeiter beziehungsweise eine Mitarbeiterin kann auch zu arbeitsrechtlichen Schritten für diese führen. Zum Beispiel eine Freistellung, eine Versetzung, bis hin zu der Verdachtskündigung. Eine Kita hat die gesetzliche Verpflichtung, besondere Vorfälle dem zuständigen Landesjugendamt zu melden. Nicht zu vergessen ist, mit den anderen Kindern einer Gruppe oder Klasse sowie ihren Eltern über die Vorfälle zu sprechen. Zu beachten ist ferner, dass sich bei einem Übergriff durch eine Fachkraft meist die Presse meldet und die Einrichtung entsprechend darauf reagieren muss.

Wird Ihrer Erfahrung nach an Schulen und Kitas genügend zur Gewaltprävention unternommen?

Margareta Müller: Wenn wir auf das Ausmaß an Gewalt gegen Kinder und Jugendliche schauen, auf das Gewalthandeln in Kitas und Schulen blicken sowie auf Gewalt von Gleichaltrigen und von Mitarbeitenden, kann klar gesagt werden, da muss noch mehr passieren. Das Recht auf das gewaltfreie Aufwachsen ist noch lange nicht umgesetzt.

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