Wo kommt sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen am häufigsten vor?
Kerstin Claus: Die direkte soziale Umgebung von Kindern und Jugendlichen ist nach wie vor, bezogen auf sexualisierte Gewalt, der gefährlichste Ort für Kinder und Jugendliche - innerhalb der Familie oder Verwandtschaft, im Freundes- oder Bekanntenkreis gibt es am häufigsten Missbrauch. Aber auch im institutionellen Bereich, in Schulen, im kirchlichen Umfeld oder in Sportvereinen, gibt es sexuelle Gewalt. Letztendlich in allen Bereichen, in denen sich Schülerinnen und Schüler auch in ihrer Freizeit aufhalten. Wir sehen jeweils auch ausgeprägte Phänomene im Bereich der Peergewalt, also sexuelle Gewalt unter Gleichaltrigen oder unter Minderjährigen mit geringem Altersunterschied.
Wie verbreitet sind denn Fälle von sexualisierter Gewalt an Schulen?
Kerstin Claus: Das lässt sich leider nicht genau sagen. Ich fordere seit meinem Amtsbeginn letztes Jahr im April, dass wir Dunkelfeldstudien brauchen, um tatsächliche Angaben zur Prävalenz machen zu können und auch zu den Tatkontexten. Im Moment liegen uns keine verlässlichen Zahlen vor. Das Land Hessen zum Beispiel hat repräsentativ eine Erhebung in verschiedenen neunten Klassen gemacht und zwar sowohl in Regelschulen als auch in Förderschulen. Das ist die sogenannte SPEAK-Studie. Und die hat gezeigt, dass die Zahlen je nach Schultyp relativ hoch sein können. Schülerinnen und Schüler mit Beeinträchtigungen an Förderschulen sind nochmal einem deutlich höheren Risiko ausgesetzt. Die Rückmeldung, die die Jugendlichen in allen Schulformen gegeben haben ist, dass mindestens ein bis zwei Schülerinnen und Schüler pro Klasse von sexualisierter Gewalt betroffen sind. Wenn wir grenzverletzendes Verhalten und verbale sexualisierte Gewalt dazunehmen, dann ist die Zahl deutlich höher. Diese Befragung ging mit einem Beratungs- und Aufklärungsangebot für die Kinder und Jugendlichen einher.
Ich arbeite gerade daran, dass wir ein Zentrum für Prävalenzforschung verankern, sodass kontinuierlich bundesweit in neunten Klassen Schülerinnen und Schüler befragt werden, damit wir ein klareres Bild bekommen, auch zum Beispiel hinsichtlich des Risikopotenzials digitaler Medien. Schließlich finden mittels digitaler Medien Anbahnungen, Austausch oder das Anfertigen von Missbrauchsdarstellungen statt.
Sie haben eben schon Kinder mit Behinderungen angesprochen, bei denen die Zahlen höher sind, wie man feststellt. Gibt es bestimmte Gruppen von Kindern und Jugendlichen, die besonders häufig von sexualisierter Gewalt betroffen sind?
Kerstin Claus: Wir können sagen, dass es definitiv vulnerable Gruppen gibt, die ein besonders hohes Risiko haben, sexualisierter Gewalt ausgesetzt zu sein. Tatsächlich sind Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen eine solche vulnerable Gruppe, weil sie es häufig schwerer haben, Belastungen zu artikulieren und Gehör zu finden.
Wir haben aber genauso junge Menschen, die aus Familien mit spezifischen Belastungen kommen oder junge Menschen mit Fluchterfahrungen, jeweils Situationen, in denen der Schutzauftrag der Erziehungsberichtigten nicht ausreichend wahrgenommen werden kann, wie auch junge Menschen, die aus stark hierarchisch geprägten Familienmustern kommen und deshalb Verhalten von Erwachsenen als nicht zu hinterfragen erleben und nicht lernen Grenzverletzungen und -überschreitungen zu thematisieren.
Was ist sexualisierte Gewalt?
Kann man sexualisierte Gewalt konkret definieren?
Kerstin Claus: Es kommt auf die jeweilige Perspektive an. Strafrechtlich gesehen gibt es eine klare Definition von sexualisierter Gewalt. Darüber hinaus gibt es Handlungen, die nicht unter Strafe stehen. Bei Ausnutzung von Machtungleichgewichten zu sexuellen Handlungen an, mit oder vor Kindern und Jugendlichen gegen deren Willen, spricht man grundlegend von sexueller Gewalt.
Unabhängig davon, wie schwerwiegend die Handlungen sind, ob sie online oder offline stattfinden, strafbar sind oder nicht: Sexuelle Gewalt ist ein Angriff auf die ganze Person des jungen Menschen, auf sein Grundvertrauen und seine psychische und körperliche Unverletzlichkeit.
Zum Beispiel bringt verbale sexualisierte Gewalt spezifische Belastungen von jungen Menschen mit sich und hat eine Konsequenz. Wir unterscheiden zwischen Hands on und Hands off sexueller Gewalt. Hands off wäre zum Beispiel, wo jemand sexuelle Handlungen an sich vornimmt und ein Kind/einen Jugendlichen zwingt, zuzuschauen. Darunter fallen auch Interaktionsrisiken, also sogenannte Grooming Prozesse. Da wirkt sexuelle Gewalt schon, indem sexuelle Taten vorbereitet werden.
Sexuelle Übergriffe können anzügliche Bemerkungen oder mehrdeutige Messenger-Nachrichten sein, ein gezieltes Starren auf den Intimbereich, den Po oder die Brust, sexualisierte Gesten und Geräusche. Dazu gehören konkrete Handlungen wie sich entblößen oder masturbieren vor Minderjährigen, Pornografie zeigen, sexuelle Handlungen vor der Webcam erzwingen. Zu den massiven Formen sexueller Gewalt zählt das Eindringen in Körperöffnungen. Viele – aber nicht alle – dieser Handlungen sind strafbar.
Versehentliche Grenzverletzungen, die jeder und jedem einmal passieren können, sind noch keine sexuelle Gewalt. Beispiel: Jemand betritt ohne anzuklopfen das Bad, weil gedacht wurde, das Bad sei frei und überrascht ein nacktes Kind beim Duschen. Auch solche Grenzverletzungen können für Betroffene verletzend oder beschämend sein. Deshalb ist es wichtig, die Verantwortung zu übernehmen, um Entschuldigung zu bitten und Wiederholungen zu vermeiden.
Grenzüberschreitung und normale kindliche Entwicklung?
Nun gibt es ja sexuelle Übergriffe nicht nur von Erwachsenen an Kindern, sondern auch sexuelle Übergriffe unter Kindern oder Jugendlichen. Wenn wir bei den Kindern bleiben, gerade bei Kleinkindern, wie kann ich zum Beispiel als Kitapersonal Grenzüberschreitungen von normaler kindlicher sexueller Entwicklung unterscheiden?
Kerstin Claus: Zum einen gibt es klar sexualisiertes Verhalten, ein Nachahmen von Bildern, die mit erwachsener Sexualität verbunden werden. Und wenn ein solches Verhalten imitiert wird, dann hat das nichts mit Doktorspielen zu tun. In Fortbildungen für das Kitapersonal und Informationen für die Eltern sollte thematisiert werden, wann es sich um alterstypisches Verhalten der Kinder handelt und wann nicht. Auch bei alterstypischen Verhalten können Grenzen übertreten werden, die das Kind in seiner Selbstbestimmung verletzten, denn auch unter Kindern gilt: sie müssen einverstanden sein.
Unter anderem deshalb benötigt jede Kita für ihre Betriebserlaubnis ein Schutzkonzept. Dabei geht es neben der Prävention und Intervention bei sexueller Gewalt durch Erwachsene auch um Übergriffe unter Kindern. Dabei ist es wichtig, externe fachliche Expertise von beispielsweise spezialisierten Fachberatungsstellen, miteinzubeziehen. Zu einem solchen Schutzkonzept gehört auch ein Handlungsleitfaden, der darlegt, wie man sich in bestimmten Situationen verhalten sollte, welche Schritte im Verdachtsfall zu tun sind und wer für welchen Schritt zuständig ist. Ein weiterer wichtiger Bestandteil des Schutzkonzepts ist der Verhaltenskodex, der im Team erarbeitet wird und klare Ge- und Verbote für risikobehaftete Situationen enthält, also Situationen, die von Tätern und Täterinnen strategisch genutzt werden können. Solche Schutzkonzepte sind niemals statisch und stehen irgendwo im Aktenordner im Büro, sondern sind ein kontinuierlicher Prozess des Aufbaus von Handlungskompetenz und einer Kultur des Umgangs. Das muss gelebt werden. Somit sind alle Beteiligten in einem ständigen Austausch miteinander.
Dieser Austausch ist auch bei grenzüberschreitendem Verhalten der Kinder wichtig, da jeder eine andere Perspektive auf die Dinge hat und da sollte sich das Kitapersonal untereinander und auch mit Hilfe der externen fachlichen Expert:innen beraten, um am Ende zu einer fachlichen und nicht nur persönlichen Haltung zu kommen. Auch der Zugang zum Kind ist wichtig: Betroffene Kinder brauchen Trost, sie müssen die Erfahrung machen, dass man ihnen glaubt und sich für ihren Schutz zuständig fühlt. Mit übergriffigen Kindern ist das Verhalten in einem niedrigschwelligen Austausch anzusprechen. Sie brauchen pädagogische Konsequenzen, um mit Übergriffen aufzuhören. Auch der Einbezug der Eltern ist ratsam.
Umfassende Schutzkonzepte auch für Schulen nötig
Gibt es Möglichkeiten, sexualisierter Gewalt an Schulen vorzubeugen?
Kerstin Claus: Ganz grundlegend ist sicher eine Schulkultur förderlich, die gute Bausteine in der allgemeinen Gewaltprävention hat, auch für den Bereich Mobbing oder für physische Gewalt. Eine Schule, in der man genau hinschaut, ist da grundsätzlich gut aufgestellt. Eine Schule, in der ein Kinderrechte-geleiteter Beteiligungsprozess gut funktioniert. Das unterstützt sicher eine Kultur, in der auch eher über sexuelle Gewalt gesprochen werden kann oder der Aufbau sexualisierter Gewalt verhindert wird. Wir sind in der Schule in einem anderen Setting was das Thema Schutzkonzepte betrifft. Schutzkonzepte sind für den Bereich Kita gesetzlich verpflichtend. Es gibt mittlerweile fünf Bundesländer, bei denen der Schutz vor sexualisierter Gewalt in das Schulgesetz aufgenommen wurde. In anderen Bundesländern gibt es keine Verpflichtung per Schulgesetz, dort verlässt man sich auf individuelle Entscheidungsprozesse innerhalb der jeweiligen Schule.
Wir haben zu der Frage, welche Schulen Schutzkonzepte gegen sexualisierte Gewalt haben, 2016/17 Befragungen durch das Deutsche Jugendinstitut durchführen lassen, das Ergebnis war, dass kaum Schulen umfassende Schutzkonzepte haben. Aktuell findet auch wieder eine Befragung dazu statt, wie viele Schulen denn Schutzkonzepte haben. Wenn Schulen sich eigeninitiativ auf den Weg machen, ein Schutzkonzept zu entwickeln, hat das häufig damit zu tun, dass es tatsächlich Fälle an Schulen oder im Umfeld gegeben hat und deswegen die Motivation entstanden ist. Die Entwicklung von Schutzkonzepten, das Fortbilden von Lehrkräften in diesem Themenbereich – das ist grundlegend für Krisenintervention. Wenn man diese Kompetenz in der Schule oder in der Kita aufbaut und auch Sprechräume öffnet über den Schutzkonzeptprozess, wenn man Schülerinnen und Schüler beteiligt, auch die Eltern, wenn für die jeweilige Schule eine eigene Risikoanalyse die Basis bildet, dann ist das immer ein sehr wichtiger Baustein.
Dabei ist auch zu beachten, dass jede Schule so etwas wie ein eigenes Risikoprofil hat. In einer Förderschule zum Beispiel haben sie ganz andere Settings als in einer Regelschule, mit viel externem fachlichen Personal und häufig körperlicher Assistenz, die ein Einfallstor für Täterstrategien darstellen kann. Wenn man ein umfassendes Schutzkonzept erarbeitet, kann man auch viel konsequenter präventiv vorgehen. Und wenn man eine entsprechende Schulkultur geschaffen hat, dann gibt es zwei wichtige Faktoren: Ich kann zum einen erreichen, dass es deutlich weniger wahrscheinlich ist, dass Schule zum Tatort wird und ich kann erreichen, dass Schule über den eigenen Kompetenzaufbau so etwas wie ein Kompetenzort ist, wo auch Schülerinnen und Schüler, die sexuelle Gewalt außerhalb der Schule erleben, gute Ansprechpartner:innen finden, um sich beraten und begleiten zu lassen, um Hilfe zu erhalten. Kompetenz heißt aber mehr als ansprechbar zu sein. Sie bedeutet, auch aktiv auf Schülerinnen und Schüler zuzugehen, wenn man sich Sorgen macht.
Entscheidend ist aber auch, dass sich solche Schutzkonzepte nicht nur auf die Schule selbst, sondern auch auf außerschulische Lernorte beziehen. Das können zum Beispiel mehrtägige Schulausflüge mit Übernachtung sein.
Was wenn…? Richtig umgehen mit dem Tabu
Gibt es denn Anzeichen, an denen man erkennen kann, wenn Kinder oder Jugendliche sexualisierter Gewalt ausgesetzt sind?
Kerstin Claus: Es gibt keine verlässlichen Anzeichen dafür. Schülerinnen und Schüler, die sexueller Gewalt ausgesetzt sind, verändern sich häufig in ihrem Verhalten. Es kann sein, dass Schülerinnen und Schüler sich zurückziehen, verschlossener werden, weniger ansprechbar sind. Es kann genauso gut ein Ausagieren geben, das eher auffälliger ist, weil Kinder und Jugendliche meist emotionaler reagieren, wenn sie wütend sind. Da gibt es also nicht den einen Marker, sondern den Veränderungsprozess. Schulische Leistungen können hier ebenfalls eine Rolle spielen, es kann sein, dass die Mitarbeit im Unterricht plötzlich nicht mehr stattfindet. Was man auch wissen muss: Schülerinnen und Schüler vertrauen sich sehr oft Gleichaltrigen an und eben nicht direkt den Lehrkräften, das hat die SPEAK-Studie in Hessen gezeigt. Eine Schule sollte daher auch im Blick haben, wie Unterstützungsangebote für Schülerinnen und Schüler aussehen, die vielleicht nicht selbst betroffen sind, aber davon wissen, dass eine Freundin/ein Freund sexuelle Gewalt erlebt hat. Wichtig ist auch zu klären, welche Angebote ich hier als Schule habe, damit Schülerinnen und Schüler Unterstützung oder Beratung finden.
Wie verhalte ich mich dann als Lehrkraft, wenn ich solche Veränderungen bei einem Kind oder Jugendlichen feststelle?
Kerstin Claus: Sexualisierte Gewalt ist ein sehr tabuisierter Bereich. Ich kann nicht erwarten, dass ich beim ersten Nachfragen die Antwort bekomme, die vielleicht tatsächlich die realistische Antwort ist. Kinder und Jugendliche weichen oft zunächst aus oder erzählen nur wenig, um zu testen, ob das Gegenüber vertrauenswürdig und belastbar ist. Die Lehrkraft soll zwar niedrigschwellig das Gespräch suchen, aber nicht mit dem Fokus: Passiert Dir etwas? Erlebst Du sexuellen Missbrauch? Sondern eher in Form eines Angebots: Brauchst Du etwas? Gibt es etwas, das dich belastet, womit du Hilfe brauchst?
Wenn sich ein Verdacht, ein Gefühl verdichtet, ist es vor allem wichtig, externe Expertise ins Boot zu holen. Es sollte bereits Kooperationspartner geben, beispielsweise Fachberatungsstellen, die ich am besten schon kenne, weil gemeinsam ein Schutzkonzept entwickelt wurde. Und es ist sehr wichtig, das, was man wahrnimmt, zu dokumentieren, das Gespräch mit dem Kind oder Jugendlichen in Stichworten festzuhalten. Es kann im weiteren Verlauf einfach relevant sein und man sollte sich nicht nur auf die eigene Erinnerung verlassen. Und ganz wichtig ist grundlegend, Kinder und Jugendliche an den Schritten, die passieren, bestmöglich zu beteiligen. Es ist nicht empfehlenswert, Entscheidungen über den Kopf der Kinder und Jugendlichen hinweg zu treffen. Auch sollte man in einem solchen Fall nicht übereilt handeln. Das kann unter Umständen negative Auswirkungen auf den ganzen Prozess haben. Auf keinen Fall sollte man den Verdacht „abklären“, indem man die verdächtigte Person darauf anspricht. Denn diese neigt sicher nicht zu Geständnissen, wird aber womöglich versuchen, noch mehr Druck auf das betroffene Kind auszuüben, damit es nicht noch mehr erzählt.
Das Bundesfamilienministerium und mein Amt haben im letzten Jahr im November die Kampagne „Schieb den Gedanken nicht weg!“ gestartet. Die Kampagne macht darauf aufmerksam, dass sexualisierte Gewalt vor allem im persönlichen Umfeld des Kindes passiert. Es ist selten der Fremde, der Kinder von Spielplatz holt, es ist meistens jemand, den das Kind kennt. Darüber klärt die Kampagne auf und stellt auch viel Wissen zur Verfügung, was jede und jeder tun kann. Auf der website www.nicht-wegschieben.de können Broschüren bestellt werden, die erklären, wie wirkungsvoller Kinderschutz gestaltet werden kann, wie man mit Kindern über das Thema Missbrauch spricht oder welche Strategien Täterinnen und Täter benutzen.
Auch im schulischen Kontext gibt es Fälle sexualisierter Gewalt. Wie verhalte ich mich als Lehrkraft, wenn beispielsweise von Eltern der Verdacht geäußert wird, dass eine Kollegin/ein Kollege in sexualisierte Gewalt von Schüler:innen verwickelt ist?
Kerstin Claus: Auch diese Frage spielt natürlich bei der Entwicklung von Schutzkonzepten eine wichtige Rolle. Es ist sehr sinnvoll, ein Regelwerk zu haben, das genau beschreibt, wie in einem solchen Fall vorgegangen werden soll. Eine solche bindende Struktur macht dann das Handeln einfacher und beantwortet, schon bevor etwas passiert ist, Fragen wie: Wie gehe ich vor, wenn ein Verdacht gegen eine Lehrkraft geäußert wird? Wie mache ich einen solchen Prozess transparent, ohne zu weite Kreise zu ziehen? Wie vermeide ich eine Vorverurteilung von Lehrkräften durch Eltern oder Schülerschaft und stelle dennoch den Schutz von Kindern und Jugendlichen sicher? All das ist Teil von Handlungskompetenz.
Haben Sie den Eindruck, dass Lehrkräfte oder auch Kitapersonal mehr für das Thema sensibilisiert werden müssen?
Kerstin Claus: Ja, es muss hier definitiv mehr Aufklärung stattfinden, wie in allen anderen Bereichen der Gefahrenabwehr auch. Ich habe gerade schon angesprochen, dass es Gewaltprävention insgesamt braucht und dass diese auch etwas mit der Schulkultur zu tun hat. Sexualisierte Gewalt ist eine sehr spezifische Gewalt, die sich nicht mit anderen Gewaltformen vergleichen lässt, weil sie nicht impulsiv ist oder aus Überforderung entsteht. Sexualisierte Gewalt ist etwas sehr Strategisches und Täterstrategien zielen nicht nur auf das Kind und den Jugendlichen, sondern auch auf das erwachsene Umfeld. Täter und Täterinnen versuchen, auch andere zu manipulieren, sie bereiten ihre Taten sorgfältig vor und das schließt mit ein, auch das Umfeld in Sicherheit zu wiegen. In der Aufarbeitung von Fällen sexualisierter Gewalt wird dann oft gesagt, dass die jeweilige Person besonders gut mit Kindern oder Jugendlichen umgehen konnte, beziehungsweise ein so angenehmer und engagierter Kollege ist, dem man das nie zugetraut hätte. Das ist ein Teil der Täterstrategie. Gewaltprävention und Intervention brauchen auch mehr Wissen darüber, auch das ist Teil von Handlungskompetenz.
Bundesweite Unterstützungsangebote
Welche Unterstützungsangebote gibt es denn für Schulleitungen und Lehrkräfte zu diesem Thema?
Kerstin Claus: Schule ist Ländersache und insofern ist die Landschaft eine sehr vielfältige. In Zusammenarbeit mit den 16 Kultusbehörden der Länder und meinem Amt ist im Jahr 2016 die Initiative „Schule gegen sexuelle Gewalt“ gestartet, es gibt ein Fachportal, wo man alles Grundlegende zu Schutzkonzepten nachlesen kann. Außerdem haben wir ein Serious Game mit dem Namen „Was ist los mit Jaron?“ entwickelt. Das Onlinespiel dauert zwei bis vier Stunden und vermittelt Lehrkräften anhand von schulischen Alltagssituationen Basiswissen zum Themenfeld sexualisierte Gewalt.
In jedem Bundesland gibt es sehr unterschiedliche Ansätze, sei es E-Learning, sei es Fortbildungen für schulische Kriseninterventionskräfte, eigene Themenblöcke der Fortbildung für den Bereich sexualisierte Gewalt. In vielen Bundesländern stehen Einrichtungen wie die Schulpsychologie oder das pädagogische Landesinstitut beratend vor Ort zur Verfügung und begleiten häufig auch Prozesse der Entwicklung von Schutzkonzepten.
Aufklärung über sexuelle Gewalt gehört in jedes Fach, aber nicht in den Sexualkundeunterricht!
Würden Sie sagen, dass es auch sinnvoll ist, die Schülerinnen und Schüler möglichst früh für dieses Thema zu sensibilisieren und dies im Unterricht zu behandeln?
Kerstin Claus: Ja, Präventionsangebote gehören in jede Schule, denn dadurch signalisiert die Schule: Wir kennen dieses Thema, wir kümmern uns um dieses Thema. Für Schülerinnen und Schüler, die bereits sexuelle Gewalt erleben mussten, ist damit auch die Botschaft verbunden: Du bist damit nicht allein, das passiert vielen und wir wissen darum. Das ist ein Schritt gegen die Einsamkeit und Isolation von Betroffenen. Prävention vermittelt die Bedeutung von körperlicher und sexueller Selbstbestimmung, die Rolle von Gefühlen für den Selbstschutz. Prävention klärt darüber auf, dass die alleinige Schuld die Täter trifft und dass jedes Kind ein Recht hat, über sexuelle Gewalt zu sprechen. Diese Dinge sollte jedes Kind und jeder Jugendliche in der Schule gehört haben.
Sexuelle Gewalt spielt bei Schülerinnen und Schülern vielfältig eine Rolle im Alltag. Älteren Schülerinnen und Schülern ist die „me too“-Debatte ein Begriff, sie bekommen Dinge wie aktuell die Situation rund um die Band Rammstein und ähnliches mit, vorwiegend über ihre Smartphones. Viele erleben sexuelle Grenzverletzungen digital. Im Internet gibt es frei verfügbar massivste Gewaltdarstellungen, auch damit sind Kinder und Jugendliche konfrontiert. Deshalb wäre es ideal, wenn das Thema sexualisierte Gewalt in allen Unterrichtsfächern aufgegriffen wird und Schule sich auch damit beschäftigt, Kinder und Jugendliche über das aufzuklären, was sie im Internet vorfinden. Vor allem in der digitalen Welt findet sonst eine Art Gewöhnungseffekt statt, weil die Kinder und Jugendlichen mit vielen Darstellungen konfrontiert werden, die sie aber nicht unbedingt als sexualisierte Gewalt erkennen. Wir müssen dafür sensibilisieren und darüber aufklären, dass das schon sexuelle Gewalt ist.
Ich finde es wichtig, dass wir an den Stellen auch sehr praktisch unterwegs sind. Ich glaube, praktische Aufklärung befähigt, auszusprechen und klar zu benennen.
Gibt es bestimmte Unterrichtskonzepte, wie man den Schülerinnen und Schülern das Thema am besten näherbringen kann?
Kerstin Claus: Hier sind alle Lehrkräfte aller Unterrichtsfächer zur Beteiligung aufgerufen. Schon im Grundschulalter plädiere ich für Prävention durch Aufklärung über sexuelle Gewalt. Aber nicht etwa als Teil des Sexualkundeunterrichts, denn es geht nicht um Sexualität, sondern um Gewalt. Es gibt eine Vielzahl guter Unterrichtsmaterialien für verschiedene Klassenstufen, aber auch sehr gute Erklärfilme, die man als Lehrer*in nutzen kann. Empfehlenswert ist es aber auch, externe Expert*innen in die Schule einzuladen und in Form eines Projekttages die Schülerschaft in die Thematik einzuführen oder Workshops, Theaterstücke oder Ausstellungen von Fachberatungsstellen zu buchen.
An jeder Schule sollte es mindestens zwei bis drei Lehrkräfte geben, die vertiefende Fortbildungen zur Thematik sexuelle Gewalt absolviert haben. Diese Lehrkräfte sind dann sprechfähig und immer ansprechbar.
Und das, was immer wichtig ist, sind niedrigschwellige Möglichkeiten für Schülerinnen und Schüler, auch anonymisiert Belastungslagen benennen zu können. Sei es über einen Briefkasten, über ein Online-Tool, über die Schulsozialarbeit oder die Schulpsychologie.
Mir ist wichtig, dass wir dem Thema sexualisierter Gewalt nicht hilflos gegenüberstehen, sondern uns damit auseinandersetzen und handlungskompetent werden. Wir sollten vorbereitet sein, bevor etwas passiert.